Strategien und Branchenbeispiele für Automatisierung in der Prozessindustrie
Eine Folge der Digitalisierung der Prozessindustrie ist die zunehmende Automatisierung bis hin zu vollständig autonom ablaufenden Produktionsprozessen, die Unternehmen in den nächsten zehn Jahren erwarten.
Acht von zehn Chemie- und Pharmaunternehmen (79 Prozent) stehen der Digitalisierung aufgeschlossen gegenüber, lautet das Ergebnis einer branchenübergreifenden Befragung des Beratungshauses Tata Consultancy Services aus dem Jahr 2019. Mehr als die Hälfte der Unternehmen (53 Prozent) legt das Thema in die Hände einer zentralen Person. Immerhin ein Drittel (32 Prozent) verfügt über ein Expertenteam für die Digitalisierung.
Im Einsatz neuer Technologien zeigen sich Parallelen zu anderen Industriezweigen. Neben Cloud Computing (75 Prozent) und Big Data & Analytics (42 Prozent) hält auch 3D-Druck immer häufiger Einzug in die Branche (38 Prozent). 3D-Druck eröffnet viele neue Möglichkeiten: Medikamente lassen sich bedarfsgerecht produzieren und Dosierungen in hohem Grad individualisieren. 22 Prozent (gesamt: 14 Prozent) der Unternehmen nutzen Robotik. 23 Prozent (gesamt: 15 Prozent) verwenden VR-/AR-Technologien, um chemische Reaktionen buchstäblich anschaulich zu machen. Beispielsweise lassen sich für Mitarbeiter-Trainings das Periodensystem der Elemente oder die Verschmelzung von Atomen visualisieren.
Soziale Medien sind für die Life Sciences-Branche ein wichtiges Instrument, um die Brücke zum Endverbraucher zu schlagen. 89 Prozent (gesamt: 82 Prozent) sehen den Umgang mit Facebook und Co. als relevante Fachkompetenz, um ihre Digitalisierung voranzutreiben. Doch Social Media – wie auch Datenanalysen und agile Methoden – stellen die Branche vor größere Herausforderungen als andere Industrien. Schließlich müssen Chemie- und Pharmaunternehmen besonders strenge Reglementierungen und Richtlinien einhalten. Entsprechend begehrt sind einschlägige Experten: Das Profil des Social Media-Managers ist für 46 Prozent (Gesamt: 32 Prozent) der Unternehmen relevant.
Automatisierung gewollt
In ein ähnliches Horn stößt eine auf die Prozessindustrie fokussierte Befragung von Yokogawa aus dem Sommer 2020: 89% der über 500 weltweit Befragten geben an, dass ihre Unternehmen planen, den Automatisierungsgrad ihrer Produktion zu erhöhen. In den nächsten drei Jahren erwarten die Befragten eine signifikante Erhöhung des Autonomiegrads der Produktion in Richtung der Level 3 bis 5, wobei Level 5 für vollständige Autonomie steht, inklusive der Integration von Prozessen und der Lieferkette. Für das Jahr 2023 erwarten zwei Drittel der Befragten eine erhebliche Automatisierung.
Neben der Reduzierung von Stillstandzeiten und einem verbesserten Qualitätsmanagement gehört zu den weiteren Zielen der Automatisierung die Erfüllung regulatorischer Anforderungen, die insbesondere in der Prozessindustrie sehr tief in den Betrieb eingreifen. Entsprechend nennen 48% der Befragten eine verbesserte Produktivität als Ziel ihrer Investitionen, 40% wollen ihre operative Effizienz verbessern, und immerhin noch 22% wollen die Personalplanung optimieren.
Zu den Treibern der Automatisierung zählen die zunehmende Knappheit an qualifizierten Mitarbeitern und die Arbeitsbedingungen innerhalb der Prozessindustrie. So geben 37% der Befragten an, dass ihre Beschäftigten unter unangenehmen Bedingungen arbeiten, geprägt von gefährlicher oder eher stumpfer und repetitiver Tätigkeit. Die Möglichkeit, Arbeiten durchzuführen, ohne dass sich die Arbeitnehmer in einer gefährlichen Umgebung aufhalten müssen, bietet aus Sicht der Befragten erhebliche Sicherheits- und Kostenvorteile und fängt einen Teil des Fachkräftemangels auf.
Investitionsfelder
Die Prozessindustrie muss den wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Änderungen Rechnung tragen, die aus der steigenden Bedeutung einer nachhaltigen Wirtschaft und eines nachhaltigen Konsums resultieren. Neben kontinuierlichen Innovations- und Verbesserungsprozessen wird die Prozessindustrie zukünftig auch von Veränderungen geprägt sein, die einen sehr durchgreifenden Einfluss auf Produktportfolios, Wertschöpfungsstrukturen und Geschäftsmodelle haben. Gleichzeitig steht das Wettbewerbsumfeld für die Prozessindustrie insgesamt durch eine weitere Steigerung der Wettbewerbsintensität vor einem Umbruch.
Entsprechend sehen die Investitionsschwerpunkte der kommenden Jahre aus. Befragt nach den Top-Investitionsfeldern für die nächsten drei Jahre, nannten 51% der Teilnehmer das Thema Cyber Security, dicht gefolgt mit 47% der Nennungen der Themenkomplex Cloud, Analytics und Big Data. An dritter Stelle genannt wurde das Thema Künstliche Intelligenz mit 42%.
Der Zwischenschritt zur Autonomie ist die Automatisierung von Entscheidungen. Innerhalb der nächsten drei Jahre gehen zwei Drittel der Befragten davon aus, dass sie eine signifikante Automatisierung ihrer Entscheidungsprozesse erreicht haben – zu aktuell 17%. Dabei haben Technologien wie Künstliche Intelligenz und Digitale Zwillinge nach Meinung der Befragten den größten Einfluss und ermöglichen diese Entwicklung in den nächsten Jahren.
Künstliche Intelligenz
Die Chemie- und Pharmaindustrie ist schon heute ein großer Nutzer von KI. Maschinelles Lernen wird zur Effizienzsteigerung eingesetzt, zum Beispiel durch die Analyse von Maschinendaten zur Ausbeuteoptimierung bei Produktionsprozessen oder durch Bilderkennung zur Qualitätssicherung in der Produktion. Neuere Ansätze finden sich im Bereich Forschung und Entwicklung (etwa durch Vernetzung von Wissen über Graph-Datenbanken), in der Anwendungstechnik (zum Beispiel über digitale Laborassistenten), bei der Implementierung intelligenter Büroprozesse (etwa bei automatisiertem Forderungsmanagement) und bei neuen Geschäftsmodellen (zum Beispiel „Digital Farming“).
Landwirtschaft und IT
Ein umfassendes Beispiel für Digitalisierung in der Prozessindustrie bietet der Bereich der Nahrungsmittelerzeugung. Eine Vielzahl an digitalen Technologien verspricht, was eigentlich undenkbar schien: die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie – ausgerichtet am Leitbild einer hocheffizienten Landwirtschaft, die gleichzeitig Umwelt und Biodiversität schützt. Landwirtschaft und Landtechnik zählen sogar zu den Vorreitern der Industrie 4.0 und nicht nur beim autonomen Fahren sind Landmaschinen Autos weit voraus.
Dass Roboter Kühe melken, mag auf den ersten Blick verwundern, aber es funktioniert, und zwar sehr gut. Automatische Melksysteme sind immer häufiger in der Praxis zu finden. Beim Melken werden gleichzeitig noch Daten wie etwa die Milchmenge oder die Leitfähigkeit der Milch ermittelt, die gekoppelt mit Daten aus dem Fütterungscomputer und dem Schrittzähler Auskunft über den Gesundheitszustand der Kuh geben. Umgekehrt dienen sie wieder der Anpassung der Fütterung an die Leistung der Kuh. Potenzielle Einsatzfelder aktueller Technologietrends finden sich in den unterschiedlichen landwirtschaftlichen Bereichen:
- Lösungen zur Optimierung der Bewässerung für landwirtschaftliche Flächen
Ertrags- und Qualitätseinbußen aufgrund von Trockenheit sind im Pflanzenbau schon heute vermehrt anzutreffen. Um auf diese Entwicklung zu reagieren, setzen Landwirtschaftsbetriebe zunehmend auf die präventive Bewässerung ihrer Pflanzenbestände. Das war im wasserreichen Deutschland bislang auch kein großes Problem. Doch sollten trockene Sommer zur Regel werden, könnte es zu vermehrten Konflikten zwischen Landwirtschaft, Industrie und Wasserversorgern kommen.
Einen Lösungsansatz könnten Methoden zur Bestimmung der Wasserversorgung von Pflanzenbeständen bieten. Solche Analysen würden es erlauben, Trockenstress früh zu erkennen und gezielt zu vermeiden, ohne dafür große Mengen kostbaren Trinkwassers aufzuwenden. Bislang basieren solche Messungen jedoch auf arbeitsintensiven und oft auch destruktiven Verfahren. Der Bedarf nach verlässlichen und zugleich pflanzenschonenden Möglichkeiten zum Wasserstress-Monitoring ist vor diesem Hintergrund groß.
Ein vielversprechendes Verfahren zum Wasserstress-Monitoring bietet die kontinuierliche in-situ-Messung des Wasserpotenzials in Pflanze und Boden in Verbindung mit großräumigen Datensätzen aus Fernerkundung und Wetter-Monitoring. In Kombination mit Prognosemodellen zum Wasserfluss in der Pflanze könnten entsprechende Methoden eine bedarfsgerechte und pflanzenspezifische Bewässerungsplanung ermöglichen.
- Automatisierte Überwachung von Umweltfaktoren anhand von Sensortechnik
Wachstum und Gesundheit von Pflanzen in Sonderkulturen hängen maßgeblich von ihrer Umgebung ab. Unter anderem spielen etwa Bodenreibung und -feuchte, Verdunstung oder auch die Sonneneinstrahlung eine Rolle. Doch das Mikroklima eines Bestandes ist oftmals stark variabel und dabei nicht nur zeitlichen, sondern auch räumlichen Unterschieden und Schwankungen ausgesetzt.
Lange standen zur Messung entsprechender Parameter nur konventionelle Verfahren bereit, die sich aufgrund ihrer Größe und Kosten nicht zur repräsentativen kleinräumigen Erfassung eigneten. Das hat sich in den letzten Jahren geändert: Eine Vielzahl kostengünstiger und miniaturisierter Sensoren ermöglicht heute die präzise Abbildung von Klima-, Pflanzen- und Bodenfaktoren.
- Nachverfolgbarkeit von Produktions- und Lieferketten via Blockchain
Für die Zertifizierung von ökologisch angebauten Lebensmitteln eröffnet die Blockchain-Technologie neue Potenziale. Ob Region, Erzeuger, Inhaltsstoffe oder die Menge eingesetzter Düngemittel: Praktisch alle relevanten Informationen können durch die Blockchain zuverlässig erfasst werden.
- Management und Verarbeitung heterogener Daten aus verschiedenen Sensorsystemen
Der Einsatz von digitaler Sensorik in der Landwirtschaft hat in den letzten Jahren zu einer explosionsartigen Ausweitung verfügbarer Datenquellen geführt. Kaum eine moderne Landmaschine, die nicht auf verschiedene Weisen Informationen aus ihrer Umwelt erhebt. Doch ein Großteil dieser Daten wird danach nie wieder genutzt und liegt, gewissermaßen, brach.
- Digitaler Zwilling und elektronische Krankenakte im Spezialpflanzenbau
Möglich wäre etwa eine „elektronische Krankenakte“ für Pflanzenbestände. So könnten Landwirte in Zukunft ihre Felder begehen und sich bei Bedarf zu jeder einzelnen Pflanze Informationen zu Wachstum, Gesundheitszustand oder Schädlingsbefall anzeigen lassen. Dazu wäre es ausreichend, die entsprechende Pflanze mit einer Smartphone-Kamera zu fokussieren – eine App würde die gewünschten Informationen dann automatisch über das Bild legen.
Digitalisierte Forschung
Die Pharmaindustrie setzt ebenfalls stark auf den positiven Einfluss von Digitalisierung. Von der Idee bis zur Zulassung eines Medikaments vergehen rund 13 Jahre. Digitale Werkzeuge sind ein Schlüssel, um diese Zeitspanne deutlich zu verkürzen.
Klinische Studien sind aufwändig, langwierig und teuer. Deutliche Verbesserungen können sogenannte virtuelle Kontrollarme bringen. Bisher bekommt eine Gruppe von Patienten in klinischen Studien zusätzlich zur Standardtherapie die zu prüfende neue Therapie. Die Kontrollgruppe erhält zusätzlich ein Scheinmedikament. Mit diesem Vergleich lässt sich die gegebenenfalls bessere Wirksamkeit des neuen Arzneimittels belegen.
Die Kontrollgruppe kann aber inzwischen in manchen Fällen mit bereits vorhandenen Patientendaten virtuell simuliert werden. Das ermöglicht kleinere Studien, bei denen Patienten nur die neue und womöglich bessere Therapie erhalten. Außerdem werden dadurch Zeit und Kosten gespart. Als Grundlage dienen Daten vergleichbarer Patienten, die außerhalb von klinischen Studien die übliche Behandlung erhalten haben. Beim forschenden Arzneimittelhersteller Roche hat man damit bereits praktische Erfahrungen gesammelt.
Für die Entwicklung innovativer Arzneimittel sind forschende Pharma-Unternehmen stets auf der Suche nach neuen Wirkstoffen. Wie Datenalgorithmen und Roboter hier die Wissenschaftler aus Fleisch und Blut bereits heute unterstützen, zeigt sich etwa beim Unternehmen Sanofi. Statt wie bisher einen potenziellen Wirkstoff nach dem anderen zu untersuchen, erforschen die Wissenschaftler dort mehrere zehntausend Substanzen parallel.
Mithilfe Künstlicher Intelligenz gelingt es dem Bioinformatiker Dr. Norbert Furtmann und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in kürzerer Zeit weitaus mehr Stoffeigenschaften zu erfassen als früher. Vielversprechende Moleküle für die Therapie kann das Data-Lab-Team jetzt umfassender, schneller und mit weniger Aufwand identifizieren. Im nächsten Schritt können die vielversprechendsten Moleküle punktuell weiter verändert werden, um Krankheiten gezielter und mit weniger Nebenwirkungen zu bekämpfen – auch dabei kann KI von Nutzen sein.
Blockchain im Gesundheitswesen
Estland gilt als Pionier bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Estnische Bürgerinnen und Bürger verfügen beispielswese schon heute über elektronische Patientenakten, die mittels Blockchain-Technologie abgesichert werden. Weitere Bereiche wurden dort als Schwerpunkte für den möglichen weiteren Einsatz identifiziert. Etwa Telemedizin, Personalisierte Medizin oder die Archivierung medizinischer Aufzeichnungen – immer geht es um die Datensicherheit und Datenintegrität.
Auch forschende Pharma-Unternehmen arbeiten an Konzepten und Umsetzungen. Ein Anwendungsszenario besteht etwa für klinische Studien. Gesundheitsdaten könnten mit Blockchain-Verfahren gesammelt und nur dort weitergegeben werden, wo gewünscht und notwendig. Gleichzeitig können Privatsphäre und besonders sensible Informationen von Patienten noch besser geschützt werden. Das stärkt das Vertrauen von Patienten in die Forschung. Gerade klinische Studien für seltene Erkrankungen, für die nur sehr wenige Teilnehmer in Betracht kommen, könnten davon profitieren. Der Zeitaufwand für die Medikamentenentwicklung ließe sich an der Stelle reduzieren, und Patienten könnten schneller von neuen Behandlungsoptionen profitieren.
Blockchain zum Schutz von Lieferketten
Ein weiteres Anwendungsbeispiel besteht etwa in dem immer besseren Schutz von Lieferketten. Ganz konkret wurde etwa jüngst ein Patent für ein Verfahren angemeldet, mit dem Objekte aus der realen Welt für Maschinen digital lesbar werden. Ihnen wird dabei ein digitaler Fingerabdruck zugeschrieben, etwa ein Bildmuster, eine DNA oder eine bestimmte chemische Signatur. Der bisherige Standardansatz setzte auf die Lesbarkeit von Maschine zu Maschine. Mit der nun möglichen Lesbarkeit von Maschine zu Objekt lassen sich bestehende Verfahren und individuelle Identifizierungsmerkmale, wie etwa der Scan des bekannten Barcodes, künftig mit Blockchain-Technologien verknüpfen. Dieses Verfahren kann die Sicherheit von Lieferketten weiter stärken und Produktfälschungen weiter vorbeugen.
Jahrzehnt der Automatisierung
Das kommende Jahrzehnt wird geprägt von Automatisierung sein. Die Digitalisierung wird für einen Automatisierungsschub über alle Unternehmensbereiche hinweg sorgen. Und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um autonome mobile Roboter handelt, deren Einsatz Gartner in einem Drittel der Großunternehmen für das Jahr 2023 voraussieht, um Robotic Process Automation (RPA) zur Prozessanalyse und -verbesserung oder um Modern Work-Technologien, die für eine Veränderung der Arbeitswelt in Form von geänderten Präsenzen am Arbeitsplatz oder beispielsweise den Einsatz von Virtual Reality Anwendungen sorgen.
Im Auftrag der IHK für München und Oberbayern hat das ifo Institut die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt in Deutschland bis 2030 untersucht. Demnach ist der Strukturwandel der Berufslandschaft in vollem Gange und wird weitergehen. Insgesamt ist jedoch kein Beschäftigungsrückgang zu erwarten. Positiv in die Zukunft blicken können insbesondere hochqualifizierte Personen, die einen geringen Grad an Routinetätigkeiten aufweisen.
Gerade Berufe im mittleren Entgelt- und Qualifikationsbereich weisen öfter einen höheren Routinegrad auf, bestehen also aus beschreibbaren und wiederkehrenden Teilaufgaben und sind damit leichter automatisierbar. Zudem können solche Aufgaben leichter in andere Regionen verlagert werden und sind damit stärker von der Globalisierung betroffen, was sich zusätzlich negativ auf das Beschäftigungswachstum auswirkt. Die stärker wachsenden Berufe im hohen Entgeltbereich sind dagegen besonders oft Nicht-Routineberufe, die schwer automatisierbare kreative, koordinierende oder organisierende Fähigkeiten erfordern.